Gerade neulich besuchten eine Bekannte und ich Köln. Meine Bekannte hatte einen Teil ihrer Jugend in dieser Stadt verbracht und bezeichnete den Bereich in Köln-Süd, zwischen Uni und Dom, nahe Barbarossa-Platz am Aachener Weiher, als „ihr“ Gebiet, und war voller angenehmer Erinnerungen an diese Zeit.
Mein eigener Besuch in Köln lag über 35 Jahre zurück; als Kind war meine Familie im dortigen Zoo, was ebenfalls schöne Erinnerungen beschert hatte, auch wenn diese inzwischen etwas verblasst waren.
Umso ernüchternder war bereits die Ankunft in der Domstadt am Rhein. Baustellen; stockender Verkehr; gereizte Autofahrer; Radfahrer, für die rote Ampeln anscheinend ebenso wenig Geltung haben, wie irgendwelche auf die Straße gemalten Linien und am Ende eine dreißigminütige Parkplatzsuche hießen uns Willkommen.
Auf dem Fußweg zum Aachener Weiher erblickten wir an einigen Straßenecken Drogendealer, die mehr oder weniger offen ihre „Ware“ feilboten und diejenigen, die heutzutage verharmlosend als „Konsumenten“ bezeichnet werden, und die ohne Scheu ihre Haschpfeifen schmauchten. Ein kleiner Kinderspielplatz zu unsere Rechten war zur Hälfte von diesem Klientel besetzt, im Sandkasten lagen zwei Dutzend leere Bierflaschen und eine – wahrscheinlich – benutzte Spritze.
(Symbolbild)
Wir gingen schnell weiter, da wir keinen Ärger anziehen wollten und bereits misstrauisch von den „jungen Männern“ beäugt wurden.
Auf der schmalen Grünfläche zwischen zwei Fahrbahnen lagen mehrere, halb demontiere Fahrräder und sogar ein Elektroroller. Einige Meter weiter zwangen uns leere Kartons und eine Matratze zu einem Schlenker, wobei wir fast von einem Radfahrer getroffen wurden, der sich ohne Beachtung irgendwelcher Regeln oder Vorschriften quer über die Fahrbahn und den Grünstreifen drängte.
„Da kann man auch mal auf Seite gehen!“, rief er noch über die Schulter zurück.
Wir holten erst mal tief Luft – ein Fehler, wie sich zeigte, denn Köln stank.
Da wir aus dem Sauerland kommen und auf dem Lande leben, ist uns das, was man bei uns „Landluft“ nennt, nicht unbekannt – gemeint ist damit der Geruch von Gülle oder Mist, den die Landwirte auf die Felder streuen. Köln jedoch stank nach menschlichem Urin, Fäkalien und Erbrochenem, wobei große Lachen von letzterem auf dem Bordstein den Fußgänger zu einer gewissen Achtsamkeit zwangen.
Der Aachener Weiher selbst war voller Menschen, die sich eine Live-Schaltung von einem Fußballspiel ansahen. Überall lagen leere Bierflaschen und Unmengen an Müll herum, die den eigentlich schönen Weiher verunstalteten. Und leider waren sehr viele der Menschen nicht nur vom Fußball aufgeputscht, sie waren schon regelrecht aggressiv. Ob dies nur dem Alkohol geschuldet war, der dort reichlich floss, oder die „normale“ Stimmung darstellte, konnten wir nicht beurteilen, aber wir dachten uns unseren Teil. Keiner schien mehr auf den anderen Rücksicht zu nehmen; Radfahrer scheuchten die Fußgänger vom um den Weiher laufenden Fußweg; Hundehalter ließen ihre Tiere gleich neben sich auf der Wiese sonnenbadenden Leuten ihr „Geschäft“ verrichten; Bierflaschen wurden ins Wasser, auf den Weg und die Wiese geworfen, überall lagen Glasscherben, die Mensch und Tier gleichermaßen gefährden, besonders natürlich die spielenden Kinder.
(Symbolbild)
„Aus dem Weg!“, herrschte ein Radfahrer. „Weg da!“
Die Leute auf dem Fußweg stoben auseinander, um der kleinen Gruppe Radfahrer eiligst Platz zu machen.
„Achtet doch mal auf die Kinder!“, rief eine besorgte Mutter.
„Fresse halten!“ gab der zweite Radfahrer zurück.
Meine Bekannte und ich wechselten einen Blick: Uiii, die Stimmung hier war ja Premium.
Nach weniger als zwei Stunden am Weiher kehrte ich alleine zu unserem Fahrzeug zurück, um erneut die Parkuhr zu füttern: Achtzehn Euro für knapp drei Stunden ist meiner Ansicht nach etwas unverschämt, aber bitte, wir wollen ja keinen Ärger haben.
Eine Mitarbeiterin des Ordnungsamts schrieb gewissenhaft Falschparker oder Fahrzeuge auf, bei denen das Parkticket abgelaufen war. Den Dealer, der nur knapp zehn Meter weiter und in ihrer direkten Sichtlinie seine „Ware“ weitergab, „übersah“ sie ebenso gewissenhaft.
Ich dachte mir meinen Teil.
Kopfschüttelnd ging ich wieder in Richtung Weiher und tief in Gedanken versunken machte ich den Fehler, nicht so auf meine Umgebung zu achten, wie das sonst meine Art war.
„Ey, Kartoffel!“
Vier Jugendliche hatten mich umstellt. „Westasiaten“, wie man es heute politisch korrekt formuliert, zwischen vierzehn und sechzehn Jahre alt, taxierte ich.
„Das ist unsere Straße!“, sagte einer. „Wenn du hier durch willst, dann musst du zahlen!“
Sollte ich nun Lachen oder erneut mit dem Kopf schütteln? Mit einem Meter achtzig zählte ich nicht gerade der Kleinste und für einen Mann Mitte vierzig war ich auch relativ fit. Regelmäßig Sport und harte Arbeit hatten mich ausreichend Muskelmasse versorgt.
Automatisch ging ich in Grundstellung, so, wie ich es gelernt hatte. Ein rascher Rundblick, in den Händen der Jugendlichen waren – vorerst – keine Messer zu sehen. So weit, so gut …
„Kinder“, sagte ich ruhig. „Wenn man sich mit dem Falschen anlegt, kann das ganz schnell zu gebrochenen Knochen führen. Lasst mich in Ruhe.“
Stille.
Ungläubig und erkennbar verunsichert wechselten die Jugendlichen einen Blick. Als Kampfsportler erkennt man, ob sich das Gegenüber in Angriffs-Position bringt und bereit ist, den Angriff zu starten oder eben nicht. Die Jugendlichen hier waren nicht bereit, sie hatten nur geblufft – dieses Mal zumindest.
Mit drei raschen Schritten verließ ich den Kreis und bewegte mich seitlich von der Gruppe weg, den Blick sicherheitshalber auf die Jugendlichen gerichtet. Wer wusste schon, ob sich nicht doch einer in seiner „Ehre“ verletzt fühlte und plötzlich ein Messer zückte? Wurde man mit einem Messer angegriffen, musste man immer mit Verletzungen rechnen, selbst, wenn einem die Abwehr gelang. Das hatten wir seinerzeit alles im Krav-Maga-Training gelernt, wo wir gefühlt jede zweite Stunde die Messerabwehr übten. Woran das wohl gelegen haben mag?
Ich wechselte auf die andere Straßenseite und sprang direkt beiseite – schon wieder ein Radfahrer, der den Bürgersteig nicht von dem Fahrradweg unterscheiden konnte!
(Symbolbild)
Aber immerhin, das Zusammenleben mit diesen jungen „Westasiaten“ wurde erfolgreich neu ausgehandelt, um mal etwas abgewandelt eine bekannte SPD-Politikerin zu zitieren. Mir drängte sich die Frage auf, wie viele Leute von diesen Jugendlichen heute wohl schon „abgezockt“ worden waren. Denn wenn diese Kinder das derart dreist bei einem erwachsenen Mann versuchten, was geschah dann mit jungen oder auch älteren Frauen, die dort alleine entlang gingen und auf diese Gruppe stießen?
Zutiefst deprimiert erreichte ich den Weiher. Meine Bekannte wollte dort inzwischen auch nur noch weg, die aggressive Menge hatte es ihr nicht angetan. Als ich ihr von dem kleinen Vorfall erzähle, trug das auch nicht dazu bei, die Stimmung zu heben.
Mit einem Gefühl der Bedrücktheit brachen wir auf und kehrten zum unserem Fahrzeug zurück – die Fahrerseite war so eng zugeparkt, dass wir den Wagen aus der Parklücke schieben mussten, um einsteigen zu können.
„Diese Stadt ist verloren“, meinte meine Begleiterin traurig. „Es ist hier so schmutzig wie in Paris.“
„Oder Berlin“, erwiderte ich. Vor 25 Jahren hatte Berlin schon so ausgesehen, wie Köln heute. Ob es dort heute wohl so schlimm war, wie ich nach dem eben erlebten nun befürchtete? Berlin musste wirklich ein Drecksloch sein, wenn ich mit dieser Einschätzung auch nur annähernd recht haben sollte …
Dann kamen mir einige Gedanken, die mich wie ein Eishauch einhüllten: War das die Zukunft, wie sie sich unsere „Eliten“ für uns vorstellten? Einfach nur noch eine breite, bunt zusammengewürfelte Menschenmasse, die entweder wenig bis gar nichts mehr gemein hatte? Die sich nicht mehr umeinander kümmerten oder etwas Empathie füreinander zeigten? War Köln noch zu retten? War unser Land noch zu retten?
Ein Anfall von massiven Heimweh – so konnte man es wohl am besten nennen – übermannte mich. Ich wollte nur noch heim ins Sauerland. Mochte ja sein, dass wir nach heutigen Begriffen dort „rückständig“ und „altmodisch“ waren, aber wir kümmerten uns noch umeinander, gingen „normal“ miteinander um. Ja, wir stritten uns auch manchmal – und das sogar recht heftig -, aber wenn es darauf ankam, waren wir füreinander da. Das war das Landleben, wie ich es mochte und es mir auch nicht anders vorstellen konnte. In so einer Großstadt wollte ich nicht leben, für kein Geld der Welt, da würde ich innerhalb weniger Tage eingehen …
(Daheim ist es immer noch am schönsten … )
Wir fuhren Richtung Autobahn und mussten an einem Kreisel stoppen. In der Mitte des Kreisels saß ein Mann an einem Klavier und ein anderer Mann spielte auf seiner Gitarre, während zwei Frauen etwas sangen. Sie schienen Spaß zu haben, eine kleine Menschenmenge hatte sich am Kreisel versammelt, klatschte und sang mit. Ein anderer Mann jonglierte vor den an der Ampel stehenden Wagen mit Keulen. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Kinder, Jugendliche, ältere Menschen. Mit und ohne Migrationshintergrund. Alle zusammen standen dort und hatten einfach ein gute Zeit.
Ein Hoffnungsschimmer?
Mehr als das.
Das war die Zukunft.
Eine Gemeinschaft kann nur bestehen, wenn man sich zusammenschließt und Zusammenhalt an den Tag legt, seinen Mitmenschen gegenüber etwas Empathie, Mitgefühl und Freundlichkeit zeigt.
Ein kleines Lächeln, wenn man jemandem auf der Straße begegnet; ein höfliches Aufhalten der Tür in Laden; ein kurzes Zugreifen, wenn sich jemand bemüht, seine Einkäufe einzuladen. Mehr ist doch überhaupt nicht nötig. Ob man nun etwas Schlechtes macht oder etwas Gutes, das ist jedem selbst überlassen, aber früher oder später kehrt alles zu einem zurück, dass solltest man bei allem, was man macht, immer bedenken.
So, wie eine Reise mit dem ersten Schritt beginnt, so beginnt die Zukunft mit einer ersten guten Tat.
Es gibt also noch Hoffnung, für Köln ebenso wie für unser Land. Es liegt an jedem von uns, diese Hoffnung in eine für uns alle gleichermaßen lebenswerte Zukunft zu verwandeln. Das sollte doch für uns alle ein ebenso wünschens-, wie erstrebenswertes Ziel sein, dass jede Anstrengung lohnt …